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DAS BUCH DER BÜCHER
FÜR HELMA
Schon immer hatte ich vorgehabt, ein Buch zu schreiben. Ein Buch,
auf dem mein Name stehen würde, ganz vorne. Ein Buch, von dem die Leute
reden würden, mit dem ich berühmt werden würde.
Meine ersten Versuche, mit zwölf Jahren, waren alles andere als
ermutigend. All das, was ich zu schreiben begann, ein Science-Fiction,
ein historischer Roman, erschien mir immer platt und anfängerhaft, wenn
ich es mit den Büchern verglich, die ich gelesen hatte. Ich bewunderte,
wieviel die Autoren wussten und wie dick ihre Bücher waren. Ich dachte mir,
ich würde es nie schaffen, so ein dickes Buch voll zu kriegen. Also schob
ich meinen Plan vorerst weit von mir weg.
Im Laufe der Jahre las ich, was mir unter die Finger kam. In dieser Zeit
waren Bücher für mich etwas Heiliges. Man bezahlte gerade mal so viel
Geld dafür wie für ein Pfund Kaffee und bekam dafür etwas geschenkt,
an dem ein Mensch oft Jahre seines Lebens gearbeitet hatte. Das erschien
mir immer wieder wie ein Wunder. Also kaufte ich Bücher, wo ich sie nur
kriegen konnte, wurde ich von Flohmarktständen, Buchhandlungen und
Bibliotheken magisch angezogen.
Irgendwann aber, wohl an die zehn Jahre später, begann eine schleichende
Krankheit, dieses Wunder zu benagen. Immer wieder passierte es, dass ich
ein Buch kaufte, dessen Titel mich interessierte. Kurz darauf musste ich
dann feststellen, dass es bei weitem nicht das hielt, was es versprach.
Ich hatte oft einfache Fragen, aber die Antworten, die die Titel
versprachen, fand ich versunken in einer Flut von dicht beschriebenen,
leeren Seiten. Und selbst die Titel waren versunken in einer Flut von
Titeln. Allein die Neuerscheinungen eines einzigen Monats trieben mir
den kalten Schweiß auf die Stirn. An der Universität, eigentlich einer
Hochburg des Wissens, ging das Wissen unter in einem Sturm von
Scheinwissen, von Zahlen, Fakten, Diagrammen, Veröffentlichungen, in der
Profilierungssucht unzähliger "Wissen"-schaftler.
Veröffentlicht wurde nicht dann, wenn ein Ergebnis reif, sondern wenn
eine gewisse Zeit um war. Die wirklich guten Arbeiten verschwanden
unter einem Berg von Forschungshülsen. Genauso schien es mir, als müsse
jeder, der einmal die Liebe, den Krieg oder die Einsamkeit erlebt hatte,
einen Gedichtband darüber veröffentlichen.
Mein Traum von einst mutierte zu einer schäbigen Farce. Dem Strohhaufen,
der die wahren Juwelen zuschüttete, einen weiteren Halm hinzufügen?!
Selber ein Juwel zu schaffen, schien nicht mein Part zu sein. Aber ich
würde auch keinen weiteren Eimer Schlamm in den Sumpf der Mittelmäßigkeit
schütten. Als ich bei diesem Entschluss angelangt war, brauchte ich eine
Menge Trotz, um seine Härte mit Genugtuung zu überdecken, und oft schimmerte
auch so etwas wie Bedauern durch. In der Folgezeit begnügte ich mich nun
damit, nur das hinzuschreiben, was aus mir hinaus wollte, ohne Ambitionen,
ohne Druck, und es war nicht das Schlechteste. Mal zwei Gedichte, ein Jahr
gar nichts, mal eine Geschichte wie diese. Für mich und für meine Freunde.
Schön.
Doch gegen eins half auch das nichts: Gegen das blinde Geschreibe vor
meiner Haustüre, das mich unweigerlich immer dann anfiel, wenn ich es
wagte, eine Buchhandlung zu betreten, schlimmer noch, das mir von den
Grabbeltischen mit den Sonderangeboten vom Straßenrand geradewegs ins
Gesicht sprang.
Und irgendwann war dann Sense. Zwischen einem riesigen Vorrat an
aufgestauter Wut, Ratlosigkeit und maßlosem Frust stand da plötzlich eine
kleine Idee. Winzig, aber hämisch wie ein Gnom, ein Kobold, kichernd vor
Schadenfreude. Ich würde doch ein Buch schreiben. Das heißt,
nicht irgendein Buch, sondern das Buch, das Buch der Bücher. Das
Buch über Bücher. Ich würde diesen Möchtegern-Schreibern ordentlich die
Suppe versalzen. Ich würde sie aus den Regalen fegen. Voller Begeisterung
machte ich mich an die Arbeit.
Ich begann, die Bücher, die ich besaß, oder die ich gelesen hatte, in ein
Raster einzuordnen. Erstens Bücher, die so gut sind, dass ich sie für
unverzichtbar hielt und für uneingeschränkt zu empfehlen. Das waren
mehrere. Zweitens Bücher, die wichtig und gut sind. Das waren einige.
Drittens Bücher, deren Essenz man auf einer Seite zusammenfassen kann.
Das waren viele. Viertens Bücher, deren Aussage man in einem Satz
zusammenfassen kann. Das waren die meisten. Ich will nicht sagen, dass
diese Art Bücher unbedeutend sind. Aber warum soll man ein Buch lesen,
wenn es reicht, einen einzelnen Satz zu lesen? Des weiteren fand ich noch
mehrere Sparten mit so köstlichen Namen wie Bücher, deren einziger
Zweck darin liegt, ihren Autor zu therapieren oder Bücher, deren
Sinn sich darin erschöpft, das Nostalgiebedürfnis ihres Autors zu
befriedigen. Nun ging ich an die Hauptaufgabe, nämlich genau die Seiten
und Sätze zu schreiben, die die Bücher der dritten und vierten Kategorie
ihrer Existenzgrundlage berauben sollten. Und mit jedem Satz, der ein Buch
aus dem Rennen warf, fühlte ich mich freier, fühlte ich ein Stück
weggenommen von dem Berg, dem Bücherhaufen, der mich zu erdrücken drohte.
Als ich es auf diese Weise im Morgengrauen geschafft hatte, meinen
gerechten Zorn abrauchen zu lassen, besah ich mir das Resultat der Nacht:
Eine wüste Sammlung von Blättern, in einer grauenhaften Klaue geschrieben.
Dazu einige Tabellen, Skizzen, alles zusammen das Werk eines Verrückten.
Und doch... Dieser ungelenkte Wutlauf hatte einen Pfad getreten,
der mich faszinierte...
Im Licht eines neuen Tages, bei einer erneuten Durchsicht der Seiten,
erkannte ich die hier verborgene Kraft. Sprengstoff! Revolution !
Immer mit der Ruhe. Mein Freund D..., ähnlich verrückt wie ich,
würde mich mal gut auslachen und damit wieder zurück auf den Boden holen.
Das war allerdings ein Irrtum. Nach einer kurzen, verblüfften Denkpause
erklärte er sich bereit, mich in den Bereichen Geschichte, Philosophie und
Lebenshilfe zu unterstützen, und er kenne auch noch jemanden für die
Informatik. Für den Rest würden sich Leute finden.
Im Laufe der nächsten Monate, während mein Werk langsam wuchs, fanden sich
tatsächlich Leute, die mich auf alle nur möglichen Arten unterstützten.
Mein Projekt war mittlerweile nämlich in weiteren Kreisen bekannt
geworden und ich wurde eingedeckt mit Rezensionen, Lobeshymnen, Verrissen
und, wie es ein Mann spitz und treffend formulierte, "Eliminationen".
Meine Hauptaufgabe bestand mittlerweile nur noch darin, zu sichten und
einzuordnen. Am nachsichtigsten ging ich dabei mit den Hobbyschriftstellern
um, deren Selbstverwirklichung ich nicht zu sehr bremsen wollte, und die
daher relativ unkommentiert in der eigenen Kategorie "Protzen mit Poesie"
landeten. Keine Gnade jedoch fanden substanzlose Wissenschaftler, deren
Prestigepublikationen häufig die Aufnahmehürde für die
"Ein-Satz"-Kategorie verfehlten und schließlich als einzigen Kommentar
eine runde, harte Null ernteten.
Schließlich war der große Tag da, an dem es erschien. Mein Buch. Das Buch
der Bücher. Eigentlich war es gar nicht ein Buch, sondern siebzehn Bücher,
ein halbes Regal voll, aber für mich war und blieb es "mein Buch".
Mit meinem Namen drauf, ganz vorne.
Und die Zeitungen schrieben darüber, und Radio und Fernsehen berichteten.
Und die Leute redeten darüber. Da waren Leute, die mir grenzenlose Arroganz
vorwarfen, und sie hatten Recht. Da waren Leute, die mir vorwarfen, Zensur
zu betreiben, und sie hatten Recht. Und da waren Leute, die mir
Ungerechtigkeit vorwarfen, und Grausamkeit und Engstirnigkeit, unglaubliche
Provokation, Destruktivität, ja sogar Wahnsinn. Und irgendwie hatten sie alle
Recht.
Aber ich fühlte mich gut! Ich war arrogant, ungerecht, engstirnig,
grausam, destruktiv und wahnsinnig und fühlte mich prächtig, frei und
leicht wie ein Vogel! Wo war das Problem? Niemand war gezwungen, das Buch
zu benutzen, wenn er nicht wollte. Und würde sich die Sache nicht von
selber erledigen, wenn das Buch wirklich so schlecht war, wie einige
behaupteten. Würde nicht die zweite Auflage in den Regalen verstauben
und die Provokation zur Geschichte werden? Aber die Zeichen standen anders.
Die bösen Briefe mit und ohne Absender waren nämlich nicht die einzige Post,
die ich bekam. Es gab auch Säcke voll Dankesschreiben, Pakete und Päckchen
mit Geschenken und Unmengen von Blumen.
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Gestern ist die zweite Auflage erschienen, vollständig überarbeitet.
Beim Durchblättern fielen mir einige Seiten auf, deren Einträge vollständig
mit Nullen markiert sind: Bücher über mein Buch. Der Gipfel der Perversion.
Seit seinem Erscheinen sind siebenunddreißig Bücher darüber herausgekommen,
über sechshundert Zeitungsartikel, einhundertdreißig Essays, ...
Für solche Literatur brauchen wir ein Buch wie meins. Für die "schöne"
Literatur, die Romane, Geschichten, Gedichte, sind mir mittlerweile
Zweifel gekommen. Ich habe in der letzten Zeit viel gelesen. Auch einige
Dinge von unbekannten Leuten, von Hobbyschriftstellern. Sie erzählten nicht
von den großen, wichtigen Fragen des Lebens, die es zu lösen gilt, sondern
oft nur von einer einzigen, winzigen Facette. Für sich genommen vielleicht
nicht besonders wichtig, aber im großen Zusammenspiel des Lebens ein
unverzichtbarer Bestandteil. Was ist ein Schmetterling ohne seine bunten
Schuppen, ein Diamant ohne seinen feinen Schliff?
Ich weiß nicht, ob es eine dritte Ausgabe meines Buches geben wird.
Und wenn, dann wird sie ganz anders aussehen.
Weniger arrogant?
Weniger?
Ach, das hat noch Zeit. Für heute reicht es mir. Vor dem Büro wartet ein
Mann mit einem Blumenstrauß. Es ist halt nicht jeder so kritisch wie ich.
Und wenn ihm mein Buch hilft ... Aber ... was ... er hat ein
Messer! ... Warum su
(1994?)
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